Liebesbrief an den Markt an der Berliner Straße

Liebesbrief an den Markt an der Berliner Straße

Ohne Dich wäre es viel langweiliger!

Ohne Dich wäre es viel langweiliger!

von Marita Odia
Fotos: Eva Rusch

von Marita Odia
Fotos: Eva Rusch

Lieber Markt an der Berliner Straße,

ich muss gestehen: Ich wohne seit über zwanzig Jahren in Mülheim, aber meist habe ich Dich links liegenlassen, wenn ich zur Berliner Straße fahre. Warum eigentlich? Vielleicht, weil Du keine Liebe auf den ersten Blick bist? Weil ich verwöhnt bin und mir Dein Obst und Gemüse nicht gut genug, Deine Kleider nicht trendy genug und nicht in meiner Größe zu haben sind und überhaupt alles zu alltäglich wirkt? Keine echten Highlights? Ende Juli habe ich mir Zeit genommen, Dich besser kennenzulernen. Und Entdeckungen gemacht: Quasi Liebe auf den dritten Blick.

Man könnte sagen, dass die Kleider- und Stoffstände heute Dein Herzstück sind. Man findet vor allem in den mittleren Marktstraßen Freizeitmode, auch italienische mit guten Stoffqualitäten, Sommerkleider und eine Menge Garderobe für Muslimas, die sich bedeckt kleiden. Schuhe und Kinderkleider gibt es auch. Und Grabbeltische mit Unterwäsche, hier hätte meine Oma liebend gerne gekauft, zum Beispiel bei die rosa Schalen-BHs mit Spitze für drei Euro das Stück – ihre Töchter und Enkelinnen hätten jede einen bekommen. (Falls Du, liebe Leserin, jetzt danach Ausschau halten willst: Von der Berliner Straße aus gesehen steht der Stand mit der Wäsche ganz auf der rechten Seite.)

Verkaufen mit Leidenschaft
Warum kaufen gerade Frauen gerne auf dem Markt ein? Das Stöbern macht ihnen Spaß! Und Nihat Şenkal verkauft ihnen Kleider, Röcke und Blusen für Frauen, er hat ein gemischtes Sortiment, für jeden Geschmack etwas. Ich frage ihn, wie es kommt, das er kein Online-Geschäft hat und lieber auf dem Markt verkauft? Nihat Şenkal holt hörbar Luft und schnaubt. Online-Verkaufen kommt für ihn nicht in Frage. Er ist sicher, dass das Kaufen auf einem Markt viel mehr Freude macht. Ihm auch, denn er berät seine Kundinnen und zeigt ihnen gerne unterschiedliche Modelle und Qualitäten.

Lange Tradition und unsichere Zukunftsaussichten
In der nächsten Reihe liegen hunderte von Stoffen aus. Zwei Tischreihen mit zig Metern Stoffballen – zum Staunen, anfassen, Kleider ausdenken. Der Stoffhändler liebt seinen Beruf, seine Familie steht seit 60 Jahren auf dem Markt. Aber leben, das kann er vom Markt nicht mehr. Die Kundinnen kaufen gerne sehr preiswert, und insgesamt gibt es zu wenig Kundschaft, berichtet er. Er hat einen zweiten Job für vier Tage pro Woche angenommen, um über die Runden zu kommen. Er geht hart mit der Stadtverwaltung ins Gericht. Dass es keine Lösung für einen neuen Großmarkt gegeben habe, sei für viele Markthändler ein großes Problem: Es ist weder wirtschaftlich noch ökologisch sinnvoll, wenn Geschäftsleute an vielen verschiedenen Stellen in der Stadt einkaufen müssen. Das mache Geschäfte kaputt.

Und richtig schön sei es hier am Schützenplatz auch nicht. Ihn stört der hintere Eingang von der Markgrafenstraße: Der strotzt vor Müll und der Durchgang mit den Müllcontainern ist vor Wochen ausgebrannt. Kein Ort mit Wohlfühlatmosphäre. Und schon gar kein Kundenmagnet.

Zwei Freundinnen schlendern über den Markt, den sie schon vor 20 Jahren besucht haben. Für sie ist er immer noch der Hit. Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt, sagen die Ladies, die sich für den Marktbesuch richtig schön gemacht haben, sie tragen leuchtend bunte Sommerkleider und strahlen in unsere Kamera.

Der Stand mit Eiern, Obst und Gemüse in der Marktmitte wird von Marianne  Neeb geführt – für ihren Neffen. Heute wird sie unterstützt von Cantal Vieillé, einer französischen Freundin, die aus der Nähe von Calais kommt. Marianne Neeb richtet sich auf und sagt stolz: »Wir sind seit 1949 hier. Ich bin Rentnerin und arbeite gerne auf dem Markt. Früher hatten wir alle Lebensmittel für den Markt selbst erzeugt. Heute gehört der Stand meinem Neffen. Wir kaufen wir bei Bauern in der Leverkusener Nachbarschaft ein, was wir nicht selbst anpflanzen.«

Und schon kommt ein Kunde, der sich für unser Gespräch interessiert und regelmäßig an den Stand kommt, um die regionale Ware zu kaufen. Er berichtet, dass er schon in den 70iger Jahren sehr schicke Hosen auf dem Markt gekauft habe. Mit ihren Standnachbarn hat Marianne Neeb nicht viel zu tun. Sie findet dass zu wenig »deutsche Kunden« auf den Markt kommen. Eine Muslima in traditioneller Kleidung, die gerade bei ihr einkauft, lacht über diesen Satz.

Diese Sprachen kann man alle auf dem Markt hören. Nurten Celebi ist Kurdin und führt das »Toré«, je nach Tageszeit Café. Restaurant, Bar. Es liegt direkt am Markt – prima für einen Besuch nach dem Einkauf. Natürlich geht sie über den Markt und erledigt Einkäufe dort – oft in kurdischer Sprache – zum Beispiel beim großen Obst- und Gemüsestand, der an der Seite der kleinen neuen Reihenhäuser steht. Der besonders lange Marktstand mit gelb-grünem Tuch bietet Ware zusätzlich auf drei langen Tischen an. Der mittlere Tisch trägt nur frische Kräuter, Duft und Anblick sind die Wucht. Nurten lässt sich eine Kiste geben, um alle Kräuter für die Küche des Toré einzukaufen. Wie all seine Kolleginnen und Kollegen ist der Betreiber des Standes im Interview eher zurückhaltend. Aber er sagt mit Stolz, dass er seit 35 Jahren hier auf dem Marktplatz verkauft.


Pittermesser und Handy-Zubehör
Und dann ist da noch der Stand mit den Haushaltswaren. Der lässt das Herz von Kochfans höher schlagen: Schöne Holzlöffel fallen ins Auge in den großzügigen Auslagen. Auch Zubehör für Mobiltelefone gibt es. Mit solch einem breiten Sortiment finden alle Marktbesucher:innen etwas für sich. Ich finde Solinger Messer – auch ein regionales Produkt. Es gibt sogar die ganz kleinen mit der gebogenen Klinge, perfekt fürs Gemüse. Wenn man sie nicht in die Spülmaschine schmeißt (!) bleiben sie sehr lange scharf. Betreiber Mustafa findet auch, dass zu wenige Menschen diesen schönen Markt besuchen. »Zur Zeit ist es überall schlecht geworden«, meint er ein wenig traurig. Trotzdem steht er an Markttagen etwa um zehn vor sechs auf dem Schützenplatz und baut den Stand seines Vaters auf.

Kurdistan und Mittelmeer im Toré
Wer seine Marktrunde beendet hat, kann bei Nurten Celebi und ihrem Team im Café Toré einen Kaffee, Tee oder eine leckere Limo trinken. Seit dem Frühjahr gibt es einen tollen Mittagstisch mit Speisen zwischen sieben und elf Euro. Wenn ihr zwischen 12 und 15 Uhr den Mittagstisch kauft, gibt es eine Saftschorle umsonst dazu. Mediterrane, oft kurdische Gerichte, alles sehr frisch zubereitet und lecker. Im Sommer ist im Biergarten auch für Großfamilien oder Freundinnentreffs Platz. Ein Besuch lohnt sich immer. Im Toré geht es familiär und sehr gastfreundlich zu. Perfekt für den Start oder Abschluss eines Marktbesuches.

Kurz bevor ich Dich verlassen will, lieber Markt an der Berliner Straße, überraschst Du mich schon wieder: Den Brotbäcker mit Backofen vor Ort kenne ich schon vom Wiener Platz – frische Simits (Sesamringe) nehme ich immer gerne mit. Jetzt steht daneben, als letzter in der Reihe, ein Käsestand mit Käsespezialitäten aus der Türkei. Mohamed liebt sein Sortiment und erklärt es gerne. Schaf, Ziege, Kuh, es gibt viel Unbekanntes und Spannendes. Mir gefällt heute am Besten die Büffelbutter, die ganz weiss, fest und aromatisch ist. Nach vier Tagen Test esse ich sie jetzt am liebsten auf geröstetem Brot mit frischen Tomaten aus dem Garten. Da hast Du mich noch mit deinem letzten Stand des Markttages zum Lächeln gebracht, lieber Markt. Ich hab Dich in mein Herz geschlossen, Deine Stände stehen ab sofort auf meinem Einkaufszettel.

Wir sehen uns!

Marita

P.S.: Samstag war ich auf dem berühmten Nippeser Markt am Wilhelmplatz. Das hat mich nachdenklich gemacht. Eigentlich ist das Angebot ganz ähnlich. Es gibt neben Lebensmitteln auch eine große Textilauswahl. Teilweise sogar die gleichen Anbieter:innen. Aber wo sind Metzger, Käsestände, Bäcker und andere Lebensmittelspezialitäten hin? Alles Corona-Opfer – wegen der Stromkosten? Deutlich schöner ist die Umgebung mit Geschäften und Cafés. Und wie kriegen die Nippeser das mit dem Klo hin? Es ist geräumig und sauber.

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